Enjambement
Ein Enjambement ist ein Zeilensprung in einem Gedicht. In diesem Beitrag und in unserem Video erfährst du anhand von vielen Beispielen alles über die Definition und Wirkung dieses Stilmittels.
Inhaltsübersicht
Was ist ein Enjambement?
„Der Strom trug das ins Wasser gestreute
↳ Laub der Bäume fort.“
An diesem Zitat aus Joachim Ringelnatz‘ Gedicht „Herbst im Fluss“ kannst du beobachten, dass der Satz aus dem ersten Vers erst im zweiten Vers beendet wird. Dieses Stilmittel nennst du Enjambement.
Darunter verstehst du also einen Zeilensprung in einem Gedicht. Dabei wird ein Satz oder eine Sinneinheit über die Versgrenze hinaus fortgesetzt.
Der Begriff „Enjambement“ kommt von dem französischen Wort enjamber (überspringen). So bezeichnest du ein Stilmittel in Gedichten, bei dem ein Satz die Versgrenze gewissermaßen „überspringt“.
Enjambement erkennen
Wie du ein Enjambement erkennen kannst, verstehst du ganz schnell an zwei Beispielen:
„Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht,
er fiel auf die zarten Blaublümelein,
sie sind verwelket, verdorret.“
Dieses Lied wurde so von Heinrich Heine überliefert. Es ist in einem strengen Zeilenstil geschrieben. Das heißt, dass es nur aus Hauptsätzen besteht, die jeweils am Versende abgeschlossen werden. Hier findest du keine Enjambements.
„Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
↳ Klirren die Fahnen.“
Bei dem Zitat aus Friedrich Hölderlins Gedicht „Hälfte des Lebens“ fällt dir aber auf, dass die Verse einzeln keinen Sinn ergeben. Nur zusammen ergeben sie einen sinnvollen Satz. So kannst du ein Enjambement erkennen.
Enjambement ist ein Fremdwort aus dem Französischen. Im Deutschen nutzt du die französische Aussprache. Außerdem solltest du darauf achten, es stets richtig zu schreiben:
Es heißt weder Enjambment noch Enjabement, sondern Enjambement!
Schwaches Enjambement
„In einem Tal bei armen Hirten
↳ Erschien mit jedem jungen Jahr,
↳ Sobald die ersten Lerchen schwirrten,
↳ Ein Mädchen, schön und wunderbar.“
Syntaktische Einheiten: In einem Tal, bei armen Hirten, erschien ein Mädchen, mit jedem jungen Jahr, sobald die ersten Lerchen schwirrten, schön und wunderbar
Bei Friedrich Schillers Gedicht „Das Mädchen aus der Fremde“ wird der Satz zwar auf mehrere Verse aufgeteilt, aber die syntaktischen Einheiten werden nicht getrennt. Deshalb handelt es sich hier um ein schwaches Enjambement.
Eine syntaktische Einheit ist ein sprachliches Gefüge, das du normalerweise nicht trennst, zum Beispiel „die große Frau“. Nur zusammen ergeben die Teile einer syntaktischen Einheit den vollständigen Sinn.
Tipp: Manchmal wird das schwache Enjambement auch zum Zeilenstil gezählt. Das liegt daran, dass die Zeilen in Gedichten immer sehr kurz sind. Ein Dichter muss längere Sätze deshalb automatisch auf mehrere Verse verteilen. Beim Vorlesen machst du zwischen den Versen oft eine kleine Pause. Lass dich davon aber nicht verwirren, du kannst es immer noch als Stilmittel interpretieren!
Starkes Enjambement
„Vor seiner Hütte ruhig im Schatten sitzt
↳ Der Pflüger; dem Genügsamen raucht sein Herd.
Gastfreundlich tönt dem Wanderer im
↳ Friedlichen Dorfe die Abendglocke.“
In Friedrich Hölderlins Gedicht „Abendphantasie“ werden die syntaktischen Einheiten hingegen unterbrochen. Die Verse ergeben einzeln keinen Sinn mehr. Deshalb sprichst du hier von einem starken Enjambement. Beim Vorlesen liest du nach dem Versende sofort weiter, um die Sinneinheit zusammenzufügen.
Strophenenjambement
Bei einem Strophenenjambement wird ein Satz oder eine syntaktische Einheit über die Grenze einer Strophe hinaus fortgeführt. Das kannst du etwa in den weiteren Strophen aus Hölderlins „Abendgedicht“ beobachten:
„Am Abendhimmel blühet ein Frühling auf;
Unzählig blühn die Rosen und ruhig scheint
Die goldne Welt; o dorthin nehmt mich,
Purpurne Wolken! und möge droben
↳ In Licht und Luft zerrinnen mir Lieb und Leid! –
Doch, wie verscheucht von höriger Bitte, flieht
Der Zauber; dunkel wird’s und einsam
Unter dem Himmel, wie immer, bin ich –“
Morphologisches Enjambement
„Jeder weiß, was so ein Mai-
↳ käfer für ein Vogel sei.“
Wie du an dem Beispiel aus „Max und Moritz“ von Wilhelm Busch siehst, können Enjambements nicht nur Sätze oder syntaktische Einheiten unterbrechen. Sie können auch einzelne Wörter trennen. Dann sprichst du von einem morphologischen Enjambement.
Eine morphologische Einheit ist ein Wort. Ein Wort besteht aus verschiedenen Elementen, zum Beispiel Silben. Zusammen bilden sie eine morphologische Einheit.
Morphologisches Enjambement – Beispiel: „Die Silbe Schmerz“ von Paul Celan
„Und Zahlen waren
mitverwoben in das
Unzählbare. Eins und Tausend und was
davor und dahinter
größer war als es selbst, kleiner, aus-
↳ gereift und
rück- und fort-
↳ verwandelt in
keimendes Niemals.“
Hakenstil
Als Hakenstil bezeichnest du eine Folge von mehreren Enjambements. Dieser Stil stellt das Gegenteil des Zeilenstils dar.
Beispiel Enjambement – Hakenstil: „Liebeslied“ von R.M. Rilke
„Wie soll ich meine Seele halten, daß
↳ sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
↳ hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
↳ Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
↳ nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.“
Enjambement – Wirkung
Das Enjambement wird als Stilmittel eingesetzt, um unterschiedliche Wirkungen hervorzurufen:
- Struktur aufbrechen: Ein Zeilensprung durchbricht den gängigen Aufbau und den klassischen Zeilenstil von Gedichten.
- flüssiger Vortrag: Vor allem beim Vorlesen erzeugen Enjambements eine fließende, fortlaufende Wirkung, da du am Versende nicht innehältst.
- Verbindung erzeugen: Zeilensprünge erzeugen beim Vorlesen eine Verbindung zwischen den Zeilen. Gleichzeitig entsteht auch eine inhaltliche Verknüpfung.
- Stocken: Vor allem morphologische, aber auch manche starke Enjambements können das Gegenteil bewirken: Das Lesen des Gedichts wird durch den unerwarteten Zeilensprung gestört und kommt ins Stocken.
Ein Dichter kann Enjambements aber auch nutzen, um eine zusätzliche Bedeutung zu transportieren. Zum Beispiel verstärken die Zeilensprünge in Andreas Gryphius‘ Sonett „Tränen in schwerer Krankheit“ den Eindruck von Müdigkeit und Erschöpfung:
„Mir ist, ich weiß nicht wie, ich seufze für und für.
Ich weine Tag und Nacht, ich sitz in tausend Schmerzen;
↳ Und tausend fürcht‘ ich noch; die Kraft in meinem Herzen
↳ Verschwindt, der Geist verschmacht‘, die Hände sinken mir.“
Enjambement – Beispiel
Das neu erlernte Wissen kannst du gleich an einem Gedicht erproben. Findest du alle Enjambements in Hölderlins Gedicht „An Zimmern“? Um welche Formen des Enjambements handelt es sich?
„Von einem Menschen sag ich, wenn der ist gut
Und weise, was bedarf er: Ist irgend eins,
Das einer Seele gnüget: ist ein Halm, ist
Eine gereifteste Reb auf Erden
Gewachsen, die ihn nähre: Der Sinn ist des
Also. Ein Freund ist oft die Geliebte, viel
Die Kunst. O Teurer, dir sag ich die Wahrheit.
Dädalus‘ Geist und des Walds ist deiner.“
Tipp: Wenn du dir nicht sicher bist, kannst du deine Lösung mit der Musterlösung am Seitenende vergleichen.
Enjambement – häufigsten Fragen
- Was ist die Wirkung eines Enjambements?
Die Wirkung eines Enjambements ist, dass die losgelösten Wörter stärker in den Fokus gerückt werden. Auch wenn du während dem Lesen darüber stolperst, so entsteht darüber hinaus dennoch ein Lesefluss über das Versende hinaus.
- Was ist ein Beispiel für ein Enjambement?
Ein Beispie ist: „möge droben // In Licht und Luft zerrinnen mir Lieb und Leid!“. Hierbei handelt es sich um ein hartes Enjambement. Das bedeutet, dass sich der inhaltliche Zusammenhang über die Strophengrenzen hinwegsetzt (Strophenenjambement) und dabei das Syntagma („möge zerrinnen“) unterbrochen wird.
Gedichtanalyse
Das Erkennen und Einordnen von Enjambements ist ein wichtiger Teil der Gedichtanalyse. Allerdings solltest du dabei auch noch weitere Merkmale eines Gedichtes untersuchen, wie etwa das Metrum, das Reimschema oder die Kadenzen. Alles Wichtige dazu erfährst du in unserem Beitrag zur Gedichtanalyse !
Lösung der Übungsaufgabe
„Von einem Menschen sag ich, wenn der ist gut
↳ Und weise, was bedarf er: Ist irgend eins,
↳ Das einer Seele gnüget: ist ein Halm, ist
↳ Eine gereifteste Reb auf Erden
↳ Gewachsen, die ihn nähre: Der Sinn ist des
↳ Also. Ein Freund ist oft die Geliebte, viel
↳ Die Kunst. O Teurer, dir sag ich die Wahrheit.
Dädalus‘ Geist und des Walds ist deiner.“
Farben: Schwaches Enjambement, Starkes Enjambement, Strophenenjambement